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  • Beitrag veröffentlicht:25. Oktober 2020

„Eine Blume, die in der Dürre erblüht,

ist die seltenste und schönste von allen.“

– Mulan

Ich schaue nach links und sehe abgeerntete Felder vor einem grauen wolkenbehangenen Himmel. Ich schaue nach rechts und mein Blick schweift über weite, braune Flächen, von denen einige mit sanftem Grün bewachsen sind. Irgendwo am Horizont sind Berge und Bäume zu erkennen. Die Staubstraße zu meinen Füßen zieht sich unaufhaltsam durch die einseitige Landschaft. Wie Perlen einer Kette sind die kleinen Dörfer auf den Weg gefädelt. Dazwischen Kilometer von Einsamkeit unter dem tiefen Himmel. Willkommen in der Meseta.

„Be a Voice, not an echo“

– Albert Einstein

Natürlich ist nicht alles in der Meseta eintönig. Zwar ziehen sich lange Passagen ohne größere Abwechslung dahin, doch immer wieder erhascht mein Blick farbige Wunder in der Einfarbigkeit: Rote Marienkäfer an vertrockneten Halmen, herbstliche Baumkronen in der Ferne, frisches Grün auf weiten Feldern oder bunte Regencapes unserer Schweizer Mitpilger. Dennoch bleibt die Meseta eine große eintönige Landschaft, in der einzig kleine Hügel, die wir erklimmen, eine Abwechslung bieten.

Rotes „Hügelkreuz“
Blaue und Grüne Farbtupfer
Endlose Weite in der Meseta
Rote Farbtupfer
Gelbe Farbtupfer

Und dann tauchte dort mitten in der Dürre und Eintönigkeit eine Kuppel auf – der Kirchturm des Dorfes Hontanas. Versteckt in einer kleinen Senke liegt dieses Dörfchen unscheinbar inmitten der Felder und kargen Hügel. Aus der Ferne erinnert es mich an ein Westerndorf und ich wäre nicht verwundert, wenn mir auf der engen Straße Planwagen oder raue Männer auf Pferden entgegenkommen würden. 

Straße in Hontanas

Direkt an der Straße steht die weiße Kirche des Dorfes. Ein Schild an der Kirchenmauer lädt zur Messe ein und das Kirchenportal steht mit beiden Toren weit offen. Eine Besonderheit hier in Spanien, da leider viele Kirchen geschlossen sind. Diese ist anders. Hier werden wir nach Betreten der Kirche mit gratis Tee, Kaffe und Keksen begrüßt. Daneben liegen Bibeln in allen Sprachen aus und Kissen vor einem Kreuz laden zum Innehalten ein. Wir stehen staunend dort, können es nicht glauben, dass eine solche Oase hier zu finden ist. Inmitten der Dürre eine farbenfrohe Blume. Einfach so am Wegesrand.

Kirche in Hontanas
Sprüche zum Nachdenken
Willkommenstisch für Pilger
Ort der Ruhe und des Gebets

Wir machen vor der Kirche Pause und genießen den Tee und Kaffee. Kurz danach benötige ich aufgrund des Kaffees eine Toilette. Anders als in Frankreich gibt es in Spanien keine öffentliche Toiletten. Also versuche ich es bei der städtischen Herberge. Die sehr unfreundliche Antwort des Hospitaleros erschüttert mich; die Toiletten sind nur für Pilger, die um 15 Uhr in die Herberge kommen werden und ich solle doch einfach hinter dem Dorf ins Gebüsch machen. Unfreundlicher und unzivilisierter geht es fast nicht!

So vor den Kopf gestoßen beschließen wir, bei der Kirche zu fragen und begeben uns zum nahe gelegenen Haus des Priesters und klopfen dort an.

„Zwei Frauen und ein Mann standen im Flur. Ich fragte nach der Toilette und wurde freundlich hereingebeten. Als ich von dieser zurückkam fragte mich die Frau, ob alles ok sei oder ob ich noch etwas bräuchte. Ich schaute ihr in die Augen und begann direkt zu weinen. Der ganze Ärger und Frust in mir kam heraus. Ich lies los und weinte, wurde frei und lies mich ganz fallen. Christina, die Gastgeberin, meinte:“ eigentlich würde ich dich gerne umarmen, doch zu „Corona-Zeiten“ geht das nicht.“ Daraufhin umarmte sie mich einfach um den Rücken und hielt mich fest. Die Wärme erfüllte mein Herz. Ich atmete tiefer und wurde plötzlich ganz ruhig.“ (Auszug aus meinem Tagebuch)

„Wir bekamen anschließend einen Tee in der warmen Stube des Priesters, genossen die Stille, Kinderriegel und wunderten uns was uns hier gerade für ein Wunder offenbart wurde…

… Wir beschlossen die Nacht hier zu bleiben, gemeinsam mit dem Priester Francisco, einem spanischen Pilger namens Pepe und einem Reisenden aus Portugal namens Raphael. Wir erhielten Mittagessen und Abendessen sowie ein unvergessliches Erlebnis in diesem kleinen Dorf Hontanas.“ (Auszug aus meinem Tagebuch)

Schild neben der Tür zum Haus des Priesters
Gemeinsames Abendessen

Noch heute wirkt dieses Erlebnis nach. Fremde Menschen öffnen die Türen für einen und versorgen einen mit solch einer Freude, die das Herz anregt. Dafür wollen sie nichts. Wiederholt betonte Francisco, dass die Nacht für uns nicht auf Spendenbasis, sondern umsonst ist. Wo uns sonst zunächst die Hand entgegengestreckt wird, um das Geld für die Nacht zu erhalten, wurde uns hier mit strahlendem Herzen gedient. Für uns der eigentliche Geist des Jakobsweges. 

Herbststimmung

Diese Gastfreundschaft der Kirche in Hontanas inmitten von geschlossenen und unfreundlichen Herbergen ist für uns ein Wunder am Weg. 

Eine seltene und eine der schönsten „Blumen“ auf unserem bisherigen Camino.

Jetzt sind wir in der Stadt Carrion de los Condes, übernachten in dem ältesten Klarissenkloster Spaniens und trotzen dem herbstlichen Wetter. Und auch wenn das Wetter grauer wird und die Farben langsam schwinden, halten wir die Augen und unser Herz offen, für die besonderen Orte entlang des Weges.

 

Wir sind gespannt, was wir noch finden werden!

Wann hast du das letzte mal eine „Blume“ in der Dürre gefunden?

Danke!

 

Ein großer Dank geht an Edith für ihre finanzielle Unterstützung. Dank dir werden wir in der Lage sein, weitere Wochen der Reise zu genießen und diesen Blog weiter zu führen. 

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