„Wer leben will, muss das Leben langsam leben, Schritt für Schritt gehen. Entschleunigung tut gut.“

– unbekannt

Während die Situation in den Regionen Galiciens sich wöchentlich verändert, die Zahlen der Infizierten schwanken und die Regionen weiterhin ihre Grenzen geschlossen halten, bleibt Moaña weiterhin eine „Insel“. Einer Vollbremsung gleich sind wir zum Stillstand gekommen. Ausgangsbeschränkungen, Maskenpflicht, geschlossene Regionsgrenzen, Regenwetter. 

Wir haben auf dem Jakobsweg im Vergleich zu unserem vorherigem Lebensabschnitt langsam und entschleunigt gelebt. Doch jetzt empfinde ich eine neue Art der Entschleunigung, eine Ruhe gemischt mit Funken voller Tatendrang und einer neuen Sehnsucht nach den vertrauten Schritten ins Unbekannte.

„Es kommt nicht darauf an, wie eine Geschichte anfängt. Auch nicht darauf wie sie aufhört. Sondern auf das, was dazwischen passiert.“

– Walter Moers, Die Stadt der träumenden Bücher

Ja, ich habe mich auf den Weg ins Unbekannte aufgemacht. Habe eine sichere Arbeitsstelle eingetauscht gegen die weite, endlose Straße, der täglichen Suche nach einem Platz zum Schlafen und der steten Ungewissheit, ob ich die Zwischenziele erreichen werde. Dennoch empfand ich eine tiefe innere Freiheit und Ruhe. Die tägliche Routine des Alltags veränderte sich mit der Zeit. Die tägliche Bewegung, die sich wechselnde Landschaft und die ständig neuen Schlafplätze wurden zur Normalität. Das große Weltgeschehen spielte keine dominierende Rolle mehr, nahm nur minimalen Einfluss, auf unser kleines grünes Zelt, irgendwo in Frankreich oder Spanien. Es tat gut, so entschleunigt zu leben, Schritt für Schritt, Ort für Ort.

Jetzt scheinen sich die Dinge plötzlich komplett gewendet zu haben. Seit zwei Wochen sind wir nun in Moaña und erleben einen komplett neuen Rhythmus, der für uns mehr als Entschleunigung ist – fast Stillstand.

Etwas Zweisamkeit beim Haarschneiden.

Es ist anstrengend in der immer gleichen Wohnung mit sechs Personen zu sein, nur stark eingeschränkt hinausgehen zu können und von unsichtbaren Grenzen gezwungen zu werden in einer bestimmten Region zu bleiben. Zum Glück haben wir Freunde, die auch die verborgenen Wunder und Besonderheiten ihrer Umgebung kennen.

 

Mit ihnen schütteln wir dieses unwohle Gefühl etwas ab, indem wir die wenigen sonnigen Tage nutzen, um mit Masken die nähere Umgebung zu erkunden. Während wir auf dem Jakobsweg die Masken über weite Strecken nicht aufziehen mussten, da wir fast keinen Menschen begegneten, ist sie hier ein ständiger Begleiter. 

Letzten Donnerstag haben sie uns mit dem spannenden Ziel eine „Geisterstadt“ zu sehen hinaus gelockt. Unter einer „Geisterstadt“ konnte ich mir erstmal nichts konkretes vorstellen und war doch sehr neugierig auf diesen besonderen Ort. Als ich kurz darauf aus dem Auto ausstieg wusste ich direkt was sie meinten.

Unvollendete Häuserreihen

Halbfertige Hausskelette ragten aus hohen Büschen und Gräsern. Angefangene Mauern wurden von Moosen und Farnen überwuchert, während sich Treppen in unfertige Stockwerke schraubten. Dazwischen rissige Straßen, gesäumt von überwucherten Bürgersteigen. Anscheinend sollte hier eine Wohnsiedlung mit Blick auf die Bucht von Vigo in Ruhiger Lage entstehen, bevor dann das Geld ausging. Nur vier Häuser sind vollendet und bezogen worden. Fremd und unwirklich stehen diese zwischen den hohlen, stummen Pfeilern der „Geisterhäuser“. 

Zwischen diesen schlenderten wir entlang, als ein Rauschen die Stille durchdrang. Zunächst dachte ich der Wind würde durch die hohen Eukalyptusbäume fegen oder die Autobahn wäre plötzlich zu hören. Beim Näherkommen hörte es sich jedoch mehr wie Wasser an. Wir überstiegen Geröll und Bauschutt, folgten einem kleinen Pfad durch Gebüsche und Gestrüpp, dann eröffnete sich vor mir ein wunderschöner Blick auf einen idyllischen Wasserfall. 

Ich setzte mich auf einen großen flachen Stein und betrachtete das dahinrauschende, springende, spritzende Wasser. Es war wunderschön. Das laute Rauschen des Wassers – ein Kontrast zu der stillen, inneren Ruhe, die ich plötzlich spürte.

In mir machte sich Freude, Lebenslust und pure Dankbarkeit breit. Dankbar für eine so schöne versteckte Natur, für gute Freunde, die mir solche geheimen Orte zeigen und sie gemeinsam mit mir genießen. Es tut einfach gut.

Auf dem Nachhauseweg haben wir nochmal einen atemberaubenden Blick auf die Bucht von Vigo und den Sonnenuntergang werfen können. Ich schau auf den Tag zurück und kann sagen, dass dies ein wunderbar schöner und entspannter Tag war. Der Wasserfall konnte zwar die Funken der Abenteuerlust nicht löschen, aber er lies mich zur Ruhe kommen.

Ansonsten verbringen wir die Zeit zu sechst in der kleinen Wohnung und bereiten alles allmählich für die Adventszeit vor. Es werden Kränze geflochten, Plätzchen gebacken und Lichterketten aufgehängt, während im Hintergrund bereits vereinzelt Kinder-Weihnachtslieder laufen. 

Der fertige Adventskranz
Marzipankartoffeln rollen
Fast so gut wie bei den Großeltern
Plätzchen ausstechen will gelernt sein

Dabei machen wir uns natürlich auch Gedanken darüber, wie es im neuen Jahr weitergehen soll und wann wir den Jakobsweg beenden können. Wir stehen mit dem Tourismusportal Spanien und dem Pilgerbüro in Santiago de Compostela in Kontakt. Irgendwann werden sie uns schreiben und uns grünes Licht geben. Bis dahin suchen wir neue Orte und Tätigkeiten, die uns Ruhe und Entspannung bringen während wir langsam auf den Advent zugehen.

Wann kommst du zur Ruhe und kannst neu durchatmen in dieser Zeit?

19.11.2020

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