„Du brauchst keine Angst zu haben, du brauchst kein Wissen,

du brauchst nur Mut, deinen Weg zu gehen.“

Anja Nickel
deutsche Jakobspilgerin

Wir hatten Mut zum Träumen! Mut den ersten Schritt zu gehen. Vor vielen vielen tagen. Ungewohnt fühlt sich der Rucksack auf meinen Hüften jetzt plötzlich an. Auch die Füße scheinen sich noch über die Wanderschuhe zu wundern. Die Regentropfen fallen vor mir auf das Kopfsteinpflaster, während ich vor einer kleinen Bar in Melide stehe. Dabei versuche ich den Menschen mit den Augen zuzulächeln, die mich im Vorübergehen mustern. Herr Hut ist derzeit in der kleinen Bar und wartet mit unseren Pilgerausweisen. Nach einiger Zeit kommt er heraus – ein Lächeln auf den Augen. Wir haben ihn, unseren ersten Stempel im Jahr 2021! 

Das war am Samstag – noch 50 Kilometer entfernt von Santiago de Compostela. Um es direkt vorwegzunehmen: Heute sind wir angekommen!

„ „Wer alles durchschaut, sieht nichts mehr.”

– C.S. Lewis

Zwei Monate in Moaña liegen hinter uns. Monate, die so gänzlich anders waren, als die Zeit unterwegs. Dennoch sind wir froh über die wunderbare Zeit mit unseren Freunden. Es ist nicht selbstverständlich, dass man am Leben seiner besten Freunde zwei Monate lang in ihrer Wohnung teilhaben darf – mit Corona und Ausgangssperre, nicht immer einfach, aber auch nicht alltäglich!

Dass wir in diesen zwei Monaten keinen Rucksack, sondern lediglich einmal die Woche Einkaufstüten getragen haben, merke ich schon am Abend des ersten Tages. Meine Beine sind müde und erschöpft, meine Hüfte fühlt sich an, wie zu Beginn unseres langen Weges im Rothaargebirge (Bericht) und mein Kopf brummt etwas, da ich vergessen habe genug zu trinken. Niemals hätte ich gedacht, dass zwei Monate einen solchen Unterschied machen! Erschöpft liege ich im Bett der Herberge in Arzúa, lausche dem Regen an der Fensterscheibe und denke darüber nach, wie verrückt es eigentlich ist, im Januar durch Nordspanien zu laufen.

Geschlossene Bar am Wegesrand
Alle Pfeile weisen nach Santiago
Mut zum Träumen Nebel
Blau und Gelb vor Grün und Grau

Neblig und nass präsentiert sich Galicien bei 5°C im Januar an unserem zweiten Tag. Große Pilgerfreude kommt dabei eher selten auf. Vielleicht ein bisschen, wenn sich der Nebel etwas lichtet oder der Regen nachlässt. Auf matschigen Wald- und Feldwegen geht es vorbei an Weiden und kleinen Dörfern Santiago entgegen. Highlight sind lediglich die alten, knorrigen Bäume, die aus dem Nebel uns ihre Äste entgegen strecken.

Während sich die Landschaft nur gering verändert, können wir auf den Wegsteinen ablesen, dass wir uns Santiago scheinbar nähern. Unter der gelben Muschel auf blauem Grund und dem gelben Richtungspfeil wird einem immer auch die Entfernung bis zum Ziel präsentiert. Leider schrumpft die Entfernung oftmals kaum merklich, da alle 100 bis 200 Meter ein solcher Grenzstein steht. Ich habe mir abgewöhnt, zu genau auf diese Steine zu schauen, da die Kilometerzahlen mehr frustrieren als motivieren. Dennoch geht es Schritt für Schritt vorwärts. Kilometer für Kilometer.

42km – 36km – 27km – 20km 

Kreative Bar
Stirnband made by Hollmann
Nur heiter geht‘s weiter!

Die letzte Nacht vor Santiago verbringen wir in dem kleinen Pilgerort „O Pedrouzo“, der gefühlt nur aus Herbergen besteht. Wir sind die einzigen Pilger hier. Alle Herbergen sind geschlossen, doch eine Pension hat geöffnet und ein Zimmer für uns frei. Dankbar und mit einem Dach über dem Kopf genießen wir diese letzte Nacht, während die Weihnachtsbeleuchtung vor unserem Fenster unser Zimmer schwach grün erhellt.

Dann geht es am frühen Morgen auf die letzten 20 Kilometer. Wegstein um Wegstein zieht an uns vorbei, hier und da lässt sich die Sonne durch den Nebel blicken.

20km  – 15km – 8km – 1km

Immer wieder fallen die nebeligen Sonnenstrahlen direkt vor uns auf den Weg, bis schließlich die Sonne über den Nebel triumphiert. Im Sonnenschein laufen wir mit klopfendem Herzen hinein nach Santiago.

Mut zum Träumen Ankommen
Die letzten Schritte...

Der letzte Schritt und ich trete auf den großen Vorplatz der Kathedrale von Santiago de Compostela. Ich bin da. Die Sonne scheint. Auf dem Boden sind Pfützen von letzter Nacht. Es ist rutschig – doch das ist egal. 2.551 Kilometer. Eine Gänsehaut breitet sich auf meinen Armen aus. Ich blicke hinauf zu den Spitzen der Kathedrale. 116 Tage zu Fuß. Ich bin da. Ich bin da! Angekommen mit meinen eigenen Füßen – ich kann es gar nicht glauben. 5 Pausentage. Verrückt. Immer wieder schaue ich mich um. Ist das Real? Wir sind fast allein auf dem großen Platz. Hier und da stehen vereinzelt Touristen und machen Bilder. Über 170 verschiedene Stempel im Pilgerausweis. Die Sonne taucht die Kathedrale in goldenes Licht. Wunderschön. Ich stehe und schaue.

Ich fühle mich wie die Größte! Man was habe ich erreicht! Bin von zu Hause bis hierhergelaufen. Habe der Nacht und dem Wetter getrotzt und stehe nun hier in Santiago vor der Kathedrale. Plötzlich sehe ich mich zu dem großen Eingangsportal der Kathedrale gehen und merke, wie klein ich doch bin. Verglichen mit dem Alter dieser Kathedrale, der Länge des Weges, der Millionen Pilger vor mir und der Vielzahl an wunderbaren Menschen, die wir auf unserem Weg getroffen haben, bin ich klein, fast unbedeutend.

Freude, Trauer und unbeschreibliche Dankbarkeit machen sich in mir breit. Trotz der Trauer darüber, dass dieser Teil unserer Reise abgeschlossen ist, bin ich voller Freude darüber, dass ich es gewagt habe, mich auf den Weg zu machen. Der erste Schritt ist oft der schwerste. Wir hatten Mut zum Träumen, aber auch den Mut den vagen und gut gehegten Traum, in klare Worte zu fassen. Dies war bei uns dieser erste Schritt. Mut zu haben und diesen Worten konkrete Taten folgen zu lassen, war der zweite Schritt.

Viele tausend Schritte später, bin ich dankbar diesen Mut zum Träumen gehabt zu haben, das Wagnis eingegangen zu sein. Statt von anderen zu hören, Filme darüber zu sehen oder Bücher zu lesen, sind wir losgegangen und haben selbst nachgeschaut, wie es so ist da zu sein, wo man vorher nicht war. Ich bin dankbar Menschen getroffen zu haben, die mich inspiriert, herausgefordert, unterstützt oder ein Lächeln geschenkt haben. Seien es Begegnungen von mehreren Tagen oder wenigen Minuten gewesen. 

 

Ich fühle mich wunderbar einen kurzen Moment die gleiche gemeinsame Geschichte mit so vielen einzigartigen Menschen geteilt zu haben. Fasse auch du Mut zum Träumen und gehe den ersten Schritt! Sprich deine Träume aus.

Und jetzt? Wie gehen wir weiter?

Unser Vorhaben von Hessen bis nach Santiago de Compostela zu laufen, haben wir erfolgreich beendet. Unsere Freunde in Moaña haben wir bereits besucht. Das bedeutet für uns, Portugal ins Auge zu fassen. Wir werden heute den Tag mit genauerem Planen hier in Santiago verbringen und dann? 

…dann müssen wir wieder einmal Mut zum Träumen haben und unseren Weg gehen.

Was sind deine Träume, die demnächst Wirklichkeit werden könnten?

Dieser Beitrag hat 9 Kommentare

  1. Gabriele

    Ich freue mich so sehr für Euch und wünsche Euch von Herzen, dass all Eure Träume in Erfüllung gehen. Ich lasse es Euch wissen, wenn auch ich in Santiago angekommen bin.

    1. Herr Hut

      Oh Gabriele,
      Wie schön von dir zu hören! Eines Tages wirst du wie wir vor der Kathedrale stehen und staunen über deinen persönlichen Weg. Wir sind gespannt und werden uns mit dir freuen, wenn es so weit ist. Lass es uns auf jedenfall wissen!

  2. Christine

    Wir haben uns so sehr über euren neuen Blogeintrag gefreut. Ganz viel Mut, Gelassenheit und Weisheit für eure weiteren Planungen und für jeden neuen Schritt.

    1. Muhsin

      da schliesse ich mich dir an

    2. Herr Hut

      Vielen Dank euch! Wir haben viel hin und her überlegt und sind zu einem Entschluss gekommen. Mehr dazu gibt es am Sonntag 🙂 Wir sind auf dem Weg und haben Santiago heute Morgen verlassen.

  3. Frantz

    JA !!! Was für eine Freude, was für eine Freude, Sie zu lesen und zu wissen, dass Sie an Ihrem Ziel angekommen sind. Ich hoffe, Locke ist bei guter Gesundheit, auf jeden Fall glänzend, ebenso wie Hut. Tolles Bild von Locke vor der Kathedrale mit weit geöffneten Armen, Ihr sind die Größte. Dein Abenteuer hat mich sehr berührt. Ich wünsche Ihnen ein frohes neues Jahr 2021 und möge der Rest Ihrer Reise erfüllt sein. Wie ich bereits sagte, machte ich die Küste von Portugal, großartig und die Rückkehr durch das Zentrum zu schön, Passage bei Fatima.
    Schützen Sie sich gut und bis bald für den Rest Ihres Abenteuers.
    Frantz

    1. Herr Hut

      Lieber Franz,
      Wir haben deie treuen Kommentare im letzten Monat sehr vermisst. Wir sind bester Gesundheit und konnten so im Sonnenschein des Januars die Ankunft in Santiago voll genießen. Manchmal fühlt man sich so groß und im nächsten Moment so klein. Vor der Kathedrale in Santiago ist es uns so ergangen. Wir sind schon auf dem Weg… wohin genau kannst du am Sonntag lesen 😉

      Ganz liebe Grüße
      Bleib gesund und munter wie immer!

  4. Kvido Kruncl

    Hallo liebe Franzi,
    das ist ja toll, dass ihr das geschafft habt! Ich wünsche dir viel Glück bei deinen weiteren Abenteuern.
    P.S.: Ich vermisse dich.
    Dein Kvido

    1. Frau Locke

      Lieber Kvido,
      Ich freue mich so riesig über deine Nachricht, wie schön!
      Wir sind schon in Portugal und immer noch überwältigt, von dem, was wir schon geschafft und erlebt haben.
      Aber du hast recht, es liegen noch einige Abenteuer vor uns.
      Wenn wir wieder zurück sind, irgendwann:), werde ich euch mit Sicherheit mal besuchen kommen.
      Dann kannst du mir erzählen, was du in der Zeit alles erlebt hast.
      Ganz ganz liebe Grüße,
      Franzi
      P.S.:Ich vermisse dich und unsere Gruppe auch sehr! Ganz oft denke ich beim Laufen an euch. Grüß die anderen mal lieb von mir.

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