„Und dann muss man ja auch noch Zeit haben,
einfach dazusitzen und vor sich hin zu schauen.”
– Astrid Lindgren, Tagebuch 1964
Langsam werden meine Flip-Flops auf denen ich sitze warm. Die weiße Steinbank war einfach zu kalt, obwohl den ganzen Tag die Sonne geschienen hat. Ich schaue vor mich hin. Mein Blick schweift über die Olivenbäume zu meiner rechten und die rollenden Hügel mit der leicht rötlich gefärbten Erde zu meiner linken. Ich höre das dumpfe Schlagen von Stein auf Holz, gefolgt von hellen Knackgeräuschen. Frau Locke knackt Mandeln, die wir am Wegesrand gefunden haben. Irgendwie ist es gerade perfekt, zumindest für den Moment, hier vor der kleinen Kirche San Miguel.
Die ersten 10 Tage in Spanien sind von unterschiedlichsten Gefühlen geprägt. Jeden Tag überrascht uns der Camino mit neuen Emotionen und Neuigkeiten. Wir treffen und verabschieden uns von Pilgern, finden Wegbegleiter und Orte voller Wärme und Behaglichkeit.
Diese zehn Tage in Spanien sind sehr schnell vergangen. Gefühlt rauschen die Kilometer an uns vorbei, während wir durch immer neue Landschaften gehen. In jeder Ortschaft finden sich Schilder, die unseren Fortschritt mit Kilometerzahlen verdeutlichen. Dabei kommt uns die zurückgelegte Strecke so kurz, so einfach vor.
Die Wege sind vielfältig, wie auch die Aussichten. Hier gibt es keine großen Abschnitte auf Asphalt oder an befahrenen Landstraßen. Stattdessen folgen wir Schotter- und Staubstraßen, kleinen Trampelpfaden oder angenehmen Feldwegen, vorbei an den Gipfeln des Kantabrischen Gebirges, die voller dunkler Wolken hängen und uns immer wieder leichte Regenschauer senden. Diese sind jedoch kein Vergleich zu dem Unwetter, das wir in Frankreich erleben mussten.
Dazu kommt, dass die Ortschaften auf dem Camino versuchen, sich an Geschichte zu übertreffen. Orte, wie Pamplona, Puente La Reina, Estella oder Logrono. In jeder Stadt erzählen alte Kirchen, prächtige Brücken oder schöne Gebäude von der reichen Geschichte zur Blütezeit der Regionen. Dabei kann ich nur erahnen, wie sich frühere Pilger gefühlt haben müssen, als sie durch die prachtvollen Gassen, vorbei an majestätischen Gebäuden, schritten.
Immer wieder denke ich an die Pilger, die vor mir den Weg gegangen sind. Wie müssen sie sich gefühlt haben, als sie die Pyrenäen erblickten? Hatten sie beim Anblick des Klosters von Roncesvalles Tränen in den Augen, da sie wussten, die kargen Pyrenäen überwunden zu haben? Haben sie auf der Brücke von Puente la Reina Passiergeld bezahlen müssen? Waren sie beim Anblick von Logrono erfreut, die Furt (keltisch „gronio“) über den Fluss Ebro gefunden zu haben?
Ich wirke klein und unbedeutend, im Angesicht dieser langen Geschichte des Jakobsweges. Dennoch setze ich wie jeder andere vor mir einen Fuß vor den anderen auf alten und neuen Wegabschnitten und laufe dem einen gemeinsamen Ziel entgegen. Ob das Ziel die Kathedrale von Santiago ist oder ein höheres inneres Ziel muss jeder selbst wissen. Ich merke jedenfalls, dass ich sowohl näher nach Santiago, als auch näher zu Gott komme. Ganz im Sinne von „Ultreia et suseia“.
Wie ein Pilger von Einst, habe ich mich gefühlt, als wir in der kleinen Klosterkirche „Ermita de San Miguel“ eintrafen. Die Sonne brach zwischen den Wolken hervor und tauchte die Gegend in ein angenehm warmes Licht. Die kleine Kirche auf dem Hügel zwischen Villatuerte und Estella, aus dem Jahr 970, wird heute nicht mehr genutzt, ist aber für Besucher geöffnet. Für uns eine rustikale Pilgerherberge für eine Nacht, in der wir abseits des Pilgerstroms in unseren Schlafsäcken Ruhe finden. Die beiden Schweizer sind ebenfalls hier, sodass wir gemeinsam diesen schönen Ort genießen können.
Nur zwei Tage später verbringen wir mit ihnen erneut die Nacht im Schutz einer Kirche. Diesmal wird „DOG“ gespielt und gemeinsam der nächste Tag geplant. Aufgrund von Corona erweist sich dies als schwierig, da auf der folgenden Etappe viele Herbergen geschlossen haben und wir kein günstiges Zimmer finden. Sehr aufgewühlt gehen wir in die Nacht, unwissend, was der nächste Tag bringen wird.
„Cerrado“, lautet die Antwort auf unsere Frage nach einem Bett für die Nacht in dem kleinen Ort namens Navarrete. Alles ist geschlossen wegen Corona. Die Bestimmungen in der Region Rioja sind verschärft worden und viele Herbergen haben daraufhin zugemacht. Jetzt muss improvisiert werden. Nach endlosen Telefonaten und einigem hin und her steht schließlich ein Plan, der eine Wegstrecke von 30 Kilometern, einen Ruhetag und eine gute Einkaufsmöglichkeit beinhaltet. Wo zunächst Nerven blank lagen, können wir jetzt entspannen. Wie gut, dass wir keine Eile haben, sondern ohne zeitlichen Druck unterwegs sein können. Was jedoch stört sind die gestiegenen Herbergspreise. Viele Herbergen haben Corona genutzt, um die Preise für eine Übernachtung um zwei bis vier Euro anzuheben. Dies klingt zunächst nicht viel, summiert sich für uns jedoch über die Zeit deutlich an.
Trotz dieser Schwierigkeiten genießen wir es, durch Spanien zu laufen. Von jedem Hügel, den wir überqueren, eröffnet sich uns ein neuer Blick, eine neue Landschaft. Kirchtürme recken sich über den Horizont, umgeben von malerischen Häusern. Große Adler und Gänsegeier bevölkern den Himmel und die Weinreben wetteifern mit den Nussbäumen in prachtvollen Herbstfarben. Der rote Boden Riojas bildet einen satten Kontrast zu dem vergilbten Gras, dem blaugrauen Himmel und den Schneebedeckten Bergrücken am Horizont. Auch das Wetter soll besser werden, sodass wir zuversichtlich der kommenden Woche entgegenblicken in der Hoffnung, noch oft unser Zelt verwenden zu können.
Jetzt sind wir in dem kleinen Ort Grañón angekommen, 564 Kilometer von Santiago entfernt. Hier übernachten wir in der kleinen gemütlichen Herberge mit dem romantischen Namen „Casa de las Sonrisas“ – „Haus des Lächelns“. Hier verbringen wir mit wenigen anderen Pilgern die Zeit beim gemeinsamen Abendessen und im Austausch über den Weg.
Leider haben wir gerade erfahren, dass unser nächstes Ziel, die Großstadt Burgos, geschlossen werden soll und wir einen anderen Weg finden müssen. So verbringen wir nun den Abend mit erneuter Planung und der Unsicherheit, wie der Weg weitergehen wird.
In solchen Momenten sind wir sehr dankbar für eure Unterstützung! Wir erhalten viele Nachrichten und E-Mails mit Fragen über die aktuelle Situation und mit guten Wünschen und mutmachenden Worten! Vielen Dank, dass ihr uns so wunderbar stärkt und aufbaut!
Auch danke an E. für die finanzielle Unterstützung!
Anmerkung: Wir hatten einen Zahlendoppler in unserer Kontonummer. Dieser ist jetzt behoben. Danke für den Hinweis!