„Ich komme immer irgendwo an, indem ich von dort los gehe,

wo ich gerade war.“

– Christopher Robin in Winnie Puuh

Wir sind losgegangen. Vor 118 Tagen haben wir unsere ersten Schritte auf dem Rothaarsteig gemacht. Wir sind dort losgegangen, wo wir waren und sind – noch nicht ganz – in Santiago angekommen. Angekommen sind wir dennoch irgendwo. Genauer gesagt in dem Ort „Palas de Rei“. Ein Ort irgendwo in Galizien, mit vielen Herbergen (von denen ebensoviele geschlossen sind), einer kleinen Kirche, einem Supermarkt und dem Markierungsstein mit der Zahl 67. So viele Kilometer sind es von hier noch bis Santiago de Compostela.

Ja, wir haben die magische Zahl von 100 Kilometern unterschritten und dennoch; dennoch kommt bei uns derzeit kein großes Freudegefühl auf. Warum?

 

Ich versuche es dir zu erklären.

„Simba: ‘Der Wind wechselt wohl seine Richtung.’

Rafiki: ‘Wechsel ist gut.’

Simba: ‘Ja, aber nicht so einfach.’“

– König der Löwen

Jeder kennt dieses Gefühl nach einer langen Autofahrt. Noch 10 Kilometer bis zum Ziel. Plötzlich tut alles weh. Der Rücken schmerzt, die Beine kribbeln und eigentlich wäre man schon gerne am Ziel seiner Reise. Obwohl man genau weiß, dass es nicht mehr lange dauern wird, zieht sich die Zeit bis zur Ankunft. Ähnlich geht es auch mir.

Dabei ist hier in Galicien alles irgendwie traumhaft. Manchmal, wie aus der Fantasie eines Schriftstellers entsprungen. Die Landschaft, das saftige Grün der Felder, die kleinen steinernen Häuser, enge Gassen und Steinmauern neben den Wegen entführen einen in ferne Länder. Mal fühle ich mich wie in Irland, dann wieder wie in Mittelerde. Durch unbekannte, alte Wälder führt mich der mit Blättern bedeckte Pfad. 

In den Morgenstunden beherrschen weiße Nebelschwaden das Land, ehe sie den Kampf gegen die Sonne verlieren und die reizvolle Landschaft offenbaren. Darin stehen immer wieder Wegsteine mit Muschelsymbol und der Entfernung nach Santiago. Kilometer für Kilometer nähern wir uns so der letzten großen Stadt auf unserem Weg nach Westen.

Nebelgestalten
Geheime Pfade?
Verloren im Herbstwald?
Kornspeicher im Nebel
Enge Gässchen
Uralte Bäume
Sonnige Wanderfreude

Trotz alledem fallen mir die Schritte auf diesen Kilometern besonders schwer. Mein Körper ist eigentlich fit, mein Rücken und die Schultern wie die Monate zuvor ohne Probleme, die Füße blasenfrei und die Schuhe eingelaufen. Dennoch bin ich müde. Müde und erschöpft im Inneren. Ich möchte ankommen. Viel zu lange fühlen sich die Kilometer an. Zu langsam ziehen die Wegsteine an mir vorbei. 

Auch der 100 Kilometerstein vermag in mir keine große Freude auszulösen. Die Zahl erscheint mir so groß, so ewig. Ein sonderbarer Zustand, in dem ich mich befinde. Ich bin fast 2.500 Kilometer gelaufen und habe keine Lust mehr auf die letzten 100 Kilometer? 

Noch 100 Kilometer!

Im Austausch mit anderen Pilgern, die ebenfalls schon mehrere Monate unterwegs sind, erfahre ich, dass ich mit diesen Gefühlen nicht alleine bin. Wir merken alle, dass wir dem Ziel des Weges näher kommen und unsere Körper kommen bereits innerlich an und wollen ausruhen, obwohl wir noch nicht angekommen sind.

Morgen werden wir von hier losgehen und an einem neuen Ort ankommen, von diesem losgehen und ankommen, losgehen und… was bleibt ist ungewiss in dieser Zeit. Vielleicht wird schon morgen alles abgeriegelt und wir müssen neue Pläne machen.

Nach Vorne sehen?
Loslaufen?
Schutz suchen?
Hilfen annehmen?
Das Ziel erreichen?

Was dann ist? Was morgen ist? Sicher ist, dass wir von diesem Ort hier losgehen und irgendwo ankommen werden. Vielleicht heißt der Ort in einigen Tagen Santiago, vielleicht hat er auch einen anderen Namen. 

 

Die Zeiten sind wechselhaft und Pläne werden oftmals mit dem ersten Sonnenlicht aufgelöst wie der Nebel. Wir sind unterwegs, mal müde, mal euphorisch, immer Richtung unserer Freunde in Vigo.

Wohin bist du unterwegs?

 

Fühlst du dich schon fast am Ziel oder noch mittendrin in deiner Lebensreise?

04.11.2020

Schreibe einen Kommentar